von Prof.Dr. Carsten Kortum, Studiengangsleiter BWL-Handel DHBW Heilbronn
Der Lebensmittelhandel ist nach zwei Jahren Pandemie noch lange nicht in ruhiges Fahrwasser gelangt. Während gestörte Lieferketten nicht ganz neu sind, hat die Inflation eine neue Dimension angenommen. In der Folge ändert sich das Konsumverhalten. Die Kunden im Handel versuchen, an alten Einkaufsgewohnheiten festzuhalten. Die zunehmend geringere Kaufkraft wird dieses unmöglich machen. Für alle Beteiligten auf der Angebots- und Nachfrageseite gibt es in der jüngeren Geschichte dazu keinen Vergleich. Wir betreten Neuland mit dünnem Eis.
Im Schnitt kaufen Haushalte ihre FMCGs bei 2,4 Händlern ein. Auch wenn die SB-Großfläche gerne das One-Shop-Buying hätte, der Konsument kauft hybrid. Erstmals ist die präferierte Einkaufsstätte bei über 50% der Haushalte der Discounter. Der große Run auf die preisorientierten Händler bleibt derzeit jedoch noch aus. Die Marktanteile verschieben sich derzeit nur um wenige Prozentpunkte. Die Discounter haben in der ersten Hälfte 2022 ihre während der Pandemie verlorenen Marktanteile zurückgewonnen. Aber es gibt einen Run auf die Handelsmarken. In der klassischen Handelswerbung werden selbst auf den Frontseiten zunehmend die Eigenmarken beworben mit ihren günstigen Preisen und den Sparmöglichkeiten.
Da die Preiserhöhungen bei den Handelsmarken bei allen Händlern wesentlich größer ausfallen, oft doppelt so hoch als bei den Herstellermarken, reduziert sich in der Wahrnehmung der Konsumenten die Preiskompetenz und das Preisvertrauen der Discounter. Handelsmarken benötigen einen sichtbaren Abstand zu den A-Marken. Dieses ist teilweise nicht mehr gegeben. Für einige der Discounter ist dieses eine fatale Entwicklung, wenn das Differenzierungsmerkmal Preis zunehmend entfällt und in allen anderen Kriterien der Entscheidung für einen Händler keine Pluspunkte zu verzeichnen sind. Hier wird die Schere noch weiter auseinandergehen zwischen den Wettbewerbern.
Auch wenn der Run auf die Discounter derzeit noch nicht sichtbar ist, könnte die Entwicklung schnell Fahrt aufnehmen. Bei vielen Produkten des täglichen Bedarfs ist aufgrund knapper Budgets die Schmerzgrenze, der Reservationspreis, erreicht oder schon überschritten. Ab diesem Tipping Point kann die Nachfrage stark zurückgehen, die Preis-Absatzfunktion macht einen Knick und ist ab diesem Punkt wesentlich elastischer. Dieses betrifft zuerst nur einzelne Produkte, ab einem gewissen Niveau jedoch die Wahl des Händlers.
Gewinner sind auf jeden Fall die Handelsmarken des Handels, die in allen Betriebstypen des LEH das Sortiment nach unten abrunden. Die großen A-Marken werden vermehrt in Promotions gekauft. Hier liegt der Promotionsanteil erstmals bei 25%. Folge dieses Trading-downs sind Umsatz- und auch Ertragsrückgänge für den Handel und die Industrie.
Bedingt durch höhere Kapitalkosten und die niedrigen Erträge werden im Handel Projekte wieder vermehrt nach ihrem ROI bewertet und dann auch verschoben oder aufgegeben. Dieses betrifft IT-Projekte bis hin zu Investitionen in die Lagerlogistik. Neue Konzepte mit Wohlfühlcharakter, Frischetheken und exklusiven Gastro-Angeboten im LEH werden ausgebremst. Auch Risikokapital ist teurer geworden. Innovative Geschäftsmodelle mit negativem Cash-Flow in der Scale-up-Phase müssen früher den Break-Even erreichen.
Dieses wird insbesondere die hochdefizitären Lieferdienste bei E-Food betreffen. Hier werden nur Anbieter mit einem der Top 4 im Rücken oder einem optimalen Targeting auf zahlungskräftige und wenig preissensible Kunden mittelfristig überleben. Es fehlen schlicht die Einkaufsvolumina für gute Konditionen gegenüber der Industrie und für die Entwicklung von qualitativ hochwertigen Eigenmarken. Die hohen Rabatte bei Quick-Commerce für Wiederkäufer sind Zeichen der schwierigen Lage und vielleicht schon der Untergangsstimmung.
In der Zusammenarbeit zwischen der Industrie und dem Handel liegt weiterhin Zündstoff. Die Markenindustrie hat bisher aufgrund ihrer Pricing Power die erhöhten Kosten weitergeben können. Die EBIT-Margen sind weiterhin bei vielen Markenartiklern bei über 20%. Hier wird der Handel nicht mehr gewillt sein, bei allen Preisforderungen mitzugehen. Die ersten Fälle der verschärften Auseinandersetzung werden bereits mit großer Öffentlichkeit vor Gericht ausgetragen, und das ist nur die Spitze des Eisberges. Für die Jahresgespräche muss sich eine kooperative Vorgehensweise durchsetzen. Es wird zu neuen Regeln kommen. Verträge werden flexibler und an objektiven Maßstäben orientiert gestaltet werden. Fixe Listenpreise mit einem Jahr Laufzeit gehören ab jetzt zur Handelshistorie.
Eine große Herausforderung ist im Handel weiterhin die Sicherstellung der Warenverfügbarkeit. Bis 2019 war dieses im Handel kaum Thema und die Bestrebungen gingen eher in die Reduzierung von Lagerbeständen. In einer aktuellen Studie der DHBW Heilbronn konnte die große Bereitschaft eines Einkaufsstättenwechsels aufgrund von Out of Stock-Situationen im LEH ermittelt werden. Dieses zeigt die Relevanz für den Handel. Die Energieknappheit wird Lieferanten von Tiefkühlkost, Backwaren bis hin zu Bierbrauern und damit ganze Branchen in Ertrags- und Liquiditätsprobleme bringen. Die Industrie warnt vor Produktionsstilllegungen. Auch die eigenen Produktionsbetriebe des Handels sind massiv betroffen. Durch die hohe Komplexität in der Lebensmittelproduktion kann schon das Fehlen eines Inputfaktors wie z.B. von CO2 in der Produktion sehr viele Warengruppen beeinträchtigen. Preisgarantien können Insolvenzen verhindern. Offen wird bleiben, inwieweit der Handel seine Handelsmarkenproduzenten stützen kann und will.
Neben den steigenden Kosten ist für den LEH die angespannte Personalsituation ein inzwischen schon strukturelles Problem. Viele Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt. Der Handel muss die Attraktivität als Arbeitgeber verbessern und Routinetätigkeiten automatisieren. Die sehr innovativen 24/7 Smart-Stores ohne Personal gehen in diese Richtung und selbst die Discounter sind inzwischen offen für Self-Scanning und digitalisierte Prozesse wie ESL. Auch die langen Öffnungszeiten werden diskutiert werden müssen.
Im Aktionsgeschäft von Nonfood im LEH mit seiner exakten Taktung haben die Verspätungen in der Lieferkette aus Asien dazu geführt, dass Waren eingelagert werden oder aufeinander abgestimmte Kleinthemen nicht mehr im Verbund vermarket werden. Viele Experten rechnen noch die nächsten zwei Jahre mit Störungen in den globalen Lieferketten. Die eingekauften Mengen basieren auf dem guten Jahr 2021 mit der Schließung vieler Handelsunternehmen. Die Einlagerungen müssen in 2023 wieder abgebaut werden. Hier wird es erst ab 2024 wieder eine gewisse Normalität geben. Zusätzlich ist der Konsument bei den Impulsartikeln zurückhaltend geworden und die Abverkaufsquoten sind stark rückläufig. Hier bedarf es neuer Konzepte und einer optimierten Mengendisposition. Hier ist ein ideales Feld für die KI.
In der Summe gibt es keine gute Perspektive für den Herbst 2022 und 2023. Es besteht die Gefahr, dass die Entscheider im Handel mit den operativen Problemen so ausgelastet sind, dass für neue Konzepte und Innovationen das benötigte Mindset temporär nicht ausgeprägt ist. Das wäre für die gesamte Handelsbranche, die zum Teil ja noch nie zu den Pionieren gehörte, sehr negativ. Die beiden Megatrends im Handel, Digitalisierung und Nachhaltigkeit, werden sich in der Diffusion verzögern. Und gerade hier sind die beiden Zugpferde.
Auch wenn Gegenwind zunimmt, kann ein guter Segler auch bei Gegenwind vorankommen. Gegen den Wind kreuzen ist aber aufwendiger und bedarf häufiger Kurswechsel. Und wer dafür nicht das passende Team und einen guten Steuermann an Bord hat, dem wird die Luft ausgehen. Es wird ungemütlich.