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16Jan/19
Der Shopper im digitalen App-Solutismus

Der Shopper im digitalen App-Solutismus

Wie sieht das aktuelle Einkaufsklima in Deutschland aus, wie die Befindlichkeit des Shoppers? Wie gefährdet das Internet das stationäre Einkaufs-Paradies? Und wie sollte der POS orchestriert sein, um für die Shopper zukünftig attraktiv zu sein?

Diesen Fragen geht rheingold durch weltweite psychologische Marktforschung für Industrie und Handel nach. Unsere Forschung zeigt, dass Einkaufsklima und Kulturklima eng zusammenhängen und aktuell bei den Menschen in Deutschland eine Art psychologische Aufspaltung zu erleben ist: in Auenland und Grauenland. D.h. im Vergleich zur Welt draußen, die eher als bedrohendes Grauenland erlebt wird mit Terrorgefahr, Flüchtlingen, Globalisierung und Digitalisierung, Erdogan, Putin, Trump, gilt Deutschland eher als zu beschützendes Auenland, in dem sich gerne eingerichtet wird mit eigenen kleinen Projekten (DIY, Schrebergarten, Marmelade einkochen etc.) und in dem auch gerne eine Art Einkaufsparadies zelebriert wird, in dem alles zu jeder Zeit verfügbar ist und jeden Tag neue Inspirationen angeboten werden.

Parallel dazu zeigt sich eine digitale Verwachsung des Shoppers mit seinem Smartphone, d.h. das Smartphone gilt als unverzichtbares Zepter der Macht, durch das alles herstellbar und erreichbar ist: Verbindung zu Mitmenschen, Partnersuche, Zugriff auf alle Produkte der Welt, Spiegel der eigenen Persönlichkeit – wie ein modernes Taschenmesser, das für jede Situation eine Lösung bereitstellt.

In diesem Kontext hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Während in der analogen Welt, der Handel den Kunden noch zum König gemacht hat, ist in Zeiten des digitalen App-Solutismus der Kunde bereits König.

Der Umgang mit neuen Entwicklungen wie Alexa und Co zeigen jedoch auch die Ambivalenz, die die Menschen aktuell im Umgang mit der Digitalisierung erleben, denn einerseits sehnt sich der Shopper nach Rundum-Versorgung und totaler Kontrolle (‚Endlich eine Frau, die aufs Wort hört‘), andererseits treibt ihn die Furcht vor Entweltlichung, Unselbständigkeit und Hörigkeit um.

In Zukunft will der Kunde beides – sowohl den Online-Handel mit seiner effizienten, convenienten Einkaufslogistik als auch den stationären Handel als sinnliches Entdeckungsparadies und Begegnungsstätte.

Denn den Shopper treibt neben rationalen Motiven wie Convenience, Nähe, Preis, Sortiment und Frische ein ganzheitliches Stimmungsversprechen in den Laden. Die verschiedenen Händlermarken bieten jeweils eine spezifische Einkaufsverfassung an. Mal geht es mehr um eine Art ‚Schlau-raffenland‘, in dem der Einkäufer gierig aus dem Vollen schöpfen kann zu kleinen Preisen. Aktuell gehen die Shopper jedoch auch gerne auf sinnliche Entdeckungsreise, auf der sie sich durch Neuigkeiten glauben, immer weiter entwickeln zu können. Andere Händler werden mehr als Begegnungsstätte genutzt, in der der Shopper familiäre Vertrautheit erlebt durch umsorgenden Service, vertraute Marken und wohnliche Gestaltung. Häufig wird der Store jedoch auch wie eine Art Wahl-Fahrts-Ort gesehen, der Produkttestung und Weltverbesserung ermöglicht.

Der Handel gewinnt durch die Balance von Inspiration und Vertrautheit. Insbesondere die Sortimente mit hohem Erlebnis-Potential sollten weiter vorangetrieben werden. Bisher fristen jedoch viele wie z.B. die Feinkost eher noch ein Schatten-Dasein im LEH. Es sollte eine ganzheitliche Orchestrierung am POS inszeniert werden, siehe folgendes Beispiel „Feinkost als Fernkost“.

Auch Marken schaffen Inspiration und Vertrauen, werden jedoch aktuell von vielen Seiten angegriffen, nicht nur von den Handelsmarken sondern auch von den neuen Start-up- bzw. Mikromarken. Anders als die Marken und auch die Handelsmarken versprechen sie eine Art Generationenwechsel mit dem Gefühl, „Wir fangen neu an, kehren zum Eigentlichen zurück und beziehen euch ein, indem ihr Teil einer besonderen Bewegung werdet“. Dabei werden vielfach die Schwächen der Start-up-Marken bisher nur ansatzweise gesehen und genutzt, denn ihnen fehlen Konstanz und Geschichte, ihre Qualität wird als schwankend und unsicher erlebt, da eine Standardisierung fehlt und es fehlt ihnen an echter Marken-Markanz und einer kommunizierten Alltagsrelevanz. So z.B. sprechen die neuen Limonaden zwar alle eine ähnliche Designsprache, es fehlt jedoch eine echte Markenprofilierung, sie bleiben austauschbar.

Für den Handel ist dann das strategische Ziel die Erhöhung der Verfassungskompetenz, um sich in Zukunft gegen Alexa und Co. behaupten zu können. Entscheidend ist hierbei das stimmige Zusammenspiel aller Maßnahmen am POS, um das händlerspezifische Verfassungsversprechen herzustellen.

Für die Marken gilt es, sich gegen Handelsmarken und Mikromarken zu behaupten, ihre Schwächen zu nutzen und die Stärken einer Markenprofilierung zu kommunizieren: Marke steht für konstante Qualität, die heutzutage aber auch immer wieder bewiesen werden muss (Produkttests, Rezensionen), sie sollte ihre lange Geschichte und familiäre Vertrautheit darstellen, gleichzeitig beständig Trends aufgreifen (Neuprodukte, Aktionen, Inspirationen), globale Verantwortung übernehmen und in ihren Designcodes Ehrlichkeit und Unmittelbarkeit herstellen, gleichzeitig ihre sinnstiftende Alltagsrelevanz kommunizieren.

Um die tieferen und auch unbewussten Beweggründe der Shopper erheben zu können, wurden tiefenpsychologische Interviews mit accompaniedShopping durchgeführt.

Nicole Hanisch

Nicole Hanisch, Dipl.-Psychologin und Mitglied der Geschäftsführung beim rheingold Institut in Köln, erforscht seit mehr als 15 Jahren die nationale und internationale Handelslandschaft verschiedener Produktkategorien: Mode, Drogerie, Parfümerie, LEH/Discounter. Ihre Expertise in den unterschiedlichen Produktkategorien wie Food/Getränke, Kosmetik, Mode, Pharma, Medien bringt sie sowohl in Zusammenarbeit mit Händlern als auch mit Markenartiklern ein.