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08Apr/19
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Digitalisierung und Category Management

1. „Ich, alles, sofort und überall.“

Der eCommerce als eine Erscheinungsform der Digitalisierung stellt den stationären Handel vor große Herausforderungen: Zum einen verlagern die Kunden nicht nur Einkäufe und somit Umsätze auf den Online-Kanal, zum anderen verändern sich auch die Ansprüche der Kunden an den stationären Handel. Kunden können im eCommerce ein unbegrenztes Sortiment (‚alles‘), zu jeder Zeit (‚sofort‘) und an jedem Ort über das Smartphone (‚überall‘) erwerben. Außerdem sind die Angebote im eCommerce häufig personalisiert (‚ich‘) und somit relevant für den Kunden.

Der stationäre Handel kann jedoch aufgrund des begrenzten Platzes auch nur ein eingeschränktes Sortiment anbieten. Dieses muss jedoch mehr denn je an die jeweiligen Kundenbedürfnisse standortgenau angepasst sein.

2. Künstliche Intelligenz – die Wunderwaffe für den stationären Handel?

Über Preise, Sortimente und Werbung entscheiden im stationären Handel (noch) Menschen. Der einzelne Category Manager ist für alle Kunden und für alle Standorte des Händlers in seiner Category verantwortlich. Daraus ergibt sich eine große Komplexität (viele Artikel und viele Standorte), die ein einzelner Mensch nur mit Vereinfachungsstrategien bewältigen kann:

– Sortimentsbildung, die an Größenclustern orientiert ist

– Preisvariationen nur auf Basis von wenigen Preisclustern

– Massenhandzettel-Werbung mit geringer regionaler Differenzierung und v. a. keiner Zielgruppendifferenzierung

Künstliche Intelligenz kann komplexe Zusammenhänge in Sekundenschnelle erfassen und (zumindest) auf Basis historischer Daten optimalere Entscheidungen als der Category Manager, der auf Basis von Vereinfachungsstrategien handeln muss, treffen.

Dabei hat die künstliche Intelligenz in den letzten Jahren deutlich an Präzision gewonnen und kann Aufgaben, die früher scheinbar nur der Mensch lösen konnte, heute schon besser erfüllen.

Hinzu kommt, dass die künstliche Intelligenz nicht nur das ‚Ist‘ auf Basis historischer Daten optimieren kann, sondern zunehmend durch ‚Predictive Analysis‘ bessere Voraussagen als der Mensch über die Zukunft treffen kann.

3. Künstliche Intelligenz und Preispolitik

Die Preispolitik hat einen hohen und direkten Einfluss auf das EBIT eines Unternehmens. Bei einer Durchschnittsrendite von 2 % (Umsatzrendite) würde sich der EBIT um 50 % (auf 3 %) erhöhen, wenn es mit einer intelligenteren Preispolitik gelänge, ein nur um 1 % höheres Preisniveau durchzusetzen. Der Kunde zahlt in diesem Beispiel für einen Warenkorb statt 20 € dann 20,20 €. Aufgrund der geringen Preiskenntnis der Kunden über einzelne Preise erscheint dies nicht unmöglich.

Künstliche Intelligenz kann die Preiselastizitäten und v.a. auch die Kreuzpreiselastizitäten eines Produktes in die Preisentscheidung miteinbeziehen. Diese Auswirkungen einer Preisveränderung können auf Standortebene und auf Kundenebene unterschiedlich sein. Das Dynamic Pricing ermöglicht es dem Händler standortgenau und z. T. auch kundengenauer den Preispunkt zu ‚setzen‘, der für die individuellen Preisbereitschaften der Kunden optimiert werden kann und somit die Rentabilität des Händlers deutlich verbessern würde.

Electronic Shelf Labeling (ESL) und kundenindividuelle Rabatte über Apps sind dabei die Enabler, um eine solche für den Category Manager zu komplexe Preispolitik auch tatsächlich umsetzen zu können. Die Preisfindung wird dabei der künstlichen Intelligenz überlassen.

4. Künstliche Intelligenz und Sortimentspolitik

Die Kundenbedürfnisse werden zunehmend differenzierter. Die vielfältigen Anforderungen an Sortimente zeigt das sog. ‚Rad der Ernährungstrends‘ (z.B. Bio, Lactosefrei, Convenience, Super Food, Veggie, Functional Food, Regional, LowCarb).

Ein Sortimentsaufbau auf Basis von niedrig/mittel/hoch Preislage kann den heutigen unterschiedlichen Erwartungen der Kunden nicht mehr gerecht werden.

Außerdem unterscheiden sich die Anforderungen der Kunden auch noch in Abhängigkeit vom Standort, denn die Kundenstruktur kann sich von Standort zu Standort signifikant unterscheiden. Auch diese Komplexität kann der Category Manager heute nicht mehr bewältigen. Künstliche Intelligenz kann standortgenau das optimale Sortiment ermitteln und auch in häufigeren Optimierungszyklen an die sich ändernden Ansprüche der Kunden anpassen. Wenn die Sortimentsfindung ‚maschinell‘ durchgeführt würde, dann könnten die Sortimente aber auch standortindividuell definiert und optimiert werden und nicht mehr nur in Clustern mit vielen Standorten.

5. Künstliche Intelligenz und Handzettel-Werbung

Handzettelwerbung ist ein Instrument des Massenmarketing. Es werden einheitliche Handzettel für alle Kunden erstellt. Dabei sind jedoch i.d.R. für den einzelnen Kunden viele Werbeartikel nicht relevant. Diese Relevanz kann wiederum durch personalisierte Angebote, z. B. über Apps hergestellt werden. Die Relevanz für den einzelnen Kunden kann aber ein einzelner Category Manager für z. B. 20 Mio. Kunden jede Woche nicht ermitteln. Diese Aufgabe können nur Algorithmen der künstlichen Intelligenz erfüllen.

Letztendlich muss es das Ziel sein, in der Zukunft auf die Massenhandzettel-Werbung komplett zu verzichten und nur noch über personalisierte, relevante Promotions den Kunden in den stationären Laden zu ‚locken‘. Wenn der Händler auf die Handzettelwerbung verzichten würde, stände ein Budget von ca. 6 % (v. Umsatz) zur Verfügung. Denn zum einen erspart sich der Händler die direkten Kosten für die Handzettelproduktion und -verteilung in Höhe von ca. 1 % (v. Umsatz) und zum anderen werden durch Handzettel-Promotions ca. 5 % (v. Umsatz) in die Marge investiert (20% Promotionanteil x Ø-25 % Preisreduktion = 5 % v. Umsatz). Dieses Budget kann optimaler und relevanter genutzt werden, um die bisherige Lockvogelfunktion des Handzettels zu übernehmen.

6. Target Group Management oder Category Management?

Der Handel entdeckt aufgrund von Kundenkarten und/oder Apps das Denken in Zielgruppen bzw. Personas. Deutlich wird, dass es nicht den Durchschnittskunden gibt, sondern dass Kunden aus unterschiedlichsten tlw. sich gegenseitig konterkarierenden Motiven eine Einkaufsstätte besuchen. Daher stellt sich die Frage, ob der Handel primär eine Zielgruppe managen sollte und erst sekundär eine Category. Denn die Frage der sog. Profilierungs-Warengruppe im Category Management Ansatz wird von jeder Zielgruppe durchaus anders beantwortet und sollte sich nicht nur am Durchschnittskunden orientieren. In einem ersten Schritt könnte eine Matrix-Organisation aus Category Manager und Target Group Manager dieses Zielgruppendenken im Unternehmen stärker zur Geltung bringen.

Letztendlich könnte aber das Zielgruppen Management das Category Management ablösen, v.a. wenn es gelänge, die wesentlichen Gestaltungsparameter (Preis,Sortiment, Werbung) v.a. durch künstliche Intelligenz entscheiden zu lassen. Das Zielgruppen Management befindet sich dann überwiegend nur noch auf einer strategischen Ebene, die taktische Ebene übernimmt die künstliche Intelligenz.

Prof. Dr. Stephan Rüschen Professor für Lebensmittelhandel/Food Retail Duale Hochschule Baden-Württemberg Heilbronn

Prof. Dr. Stephan Rüschen
Professor für Lebensmittelhandel/Food Retail
Duale Hochschule Baden-Württemberg Heilbronn

Seit 2013 Professor für Lebensmittelhandel an der DHBW Heilbronn
Bis 2012 in verschiedenen Funktionen (Einkauf, Marketing, Corporate Development) von Metro Cash & Carry in Deutschland, Ungarn und Westeuropa, zuletzt Customer Management Director in der Geschäftsführung von Metro Cash & Carry Deutschland

Forschungsschwerpunkte:
Handelsmarketing, Einkauf/Category Management, Unternehmensführung, Betriebsformen im LEH