Die Corona-Krise. Ein Wort, bei dem sich mittlerweile viele bereits die Ohren zuhalten. Dennoch bleibt die Pandemie für den Handel weitgehend ein Treiber von Veränderungen. Waren es vor drei Monaten noch Toilettenpapier und Küchenrolle, die die Produzenten und Händler rund um die Welt zum Verzweifeln brachten, so werden es bald andere Herausforderungen sein: Der Beginn der Corona-Krise markiert eine Zeit der Unsicherheit und der Umbrüche in einer Art, wie sie bisher noch nie geschehen ist. Schnell, für manche zu schnell. Von einem Tag auf den nächsten begaben sich Länder in den Lockdown. Ganze Unternehmen verbarrikadierten sich ins Home Office. Reisebeschränkungen machten Grenzübertritte nur erschwert bis gar nicht mehr möglich.
Mittlerweile hat sich die Situation etwas beruhigt, Geschäfte öffnen wieder, der stationäre Handel bekommt wieder etwas Normalität. Aber: Corona hat das Konsumentenverhalten massiv verändert. Vieles davon wird bleiben. Dementsprechend gilt es nun, im “New Normal” anzukommen. Dabei steht der Handel unter Druck: Die zweistelligen Umsatz-Zuwächse der vergangenen Monate gehen zurück. Jetzt ist die Zeit, die Umbrüche und Veränderungen zu nutzen.
1. Der Handel in der neuen Low Touch/No Touch Economy
Das Einkaufserlebnis im stationären Handel hat durch Corona stark gelitten und hat Einfluss auf die das zukünftige Schaffen. Neue Hygienestandards erfordern kreative Ideen, um einerseits die Mitarbeiter, andererseits die Kunden zu schützen. Unternehmerische Anpassungsfähigkeit auf höchstem Niveau ist nun gefragt. Das erkannte zum Beispiel ABUS: Mittels einer speziell für den Handel entwickelten Zutrittskontrolle, ABUS Pandemic, bestehend aus Videoüberwachung und Ampelsystem, soll die Anzahl der im Geschäft befindlichen Kunden reguliert und getrackt werden. Das Programm kann auch nach der Krise noch Mehrwert für den Handel stiften, wie zum Beispiel bei der Optimierung der Betriebsabläufe.
Die Low Touch Economy bringt aber noch mehr mit sich als nur Zugangsbeschränkungen. Das Thema Verpackung war in den letzten Jahren immer mehr dem “No-Plastic”-Trend gefolgt. Hygienebedingt musste diese Entwicklung jedoch aktuell großteils aufgegeben werden. Um die Übertragung von Viren bestmöglich zu verhindern, findet ein regelrechter “Plastik-Boom” statt: Je besser verpackt, desto sicherer. Wie das allerdings im Verhältnis zur Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit steht, ist fraglich und bleibt auch in Zukunft spannend.
Ein weiterer Punkt ist kontaktloses Zahlen. Bis vor kurzem noch vielerorts vehement abgelehnt, wird es heute beinahe als Selbstverständlichkeit und Standard empfunden. Barzahlung? Zu riskant. Dem Trend sind bereits einige Startups gefolgt, neue Zahlungsoptionen kommen auf den Markt. Darunter auch KOALA: Das junge Unternehmen möchte den Einkauf im stationären Handel so angenehm und effizient wie möglich gestalten. Mit Hilfe der KOALA App können Kunden Produkte scannen und anschließend direkt bezahlen. Self-Checkout ist in vielen Ländern bereits Gang und Gebe, steckt hierzulande allerdings noch in den Kinderschuhen. Beflügelt durch die aktuelle Situation, könnte jedoch auch dieser Trend bald zur Normalität werden.
2. LEH als der neue, lokale Lieferdienst?!
Auch der Lieferdienst-Boom bringt neue Möglichkeiten für den Handel mit sich: Kunden zeigen Bereitschaft dafür, ihre Produkte nicht selbst vor Ort auszusuchen, sondern online zu bestellen. Sei es der wöchentliche Lebensmitteleinkauf über Bringmeister und Co., die Kochbox von HelloFresh, oder die klassischen Lieferdienste wie Lieferando. Dementsprechend haben sich auch bereits neue Optionen herauskristallisiert, die teils aus dem US-amerikanischen Markt übernommen wurden: Drop-Off-Stationen, bei denen der Online-Einkauf einfach und schnell abgeholt werden kann, eröffnen genauso wie Click & Collect-Integrationen den Raum für noch nie da gewesene Liefererlebnisse. Die US-Pizzakette Domino’s arbeitet mit dem Roboterunternehmen Nuro von Google zusammen, um die automatische Lieferung mit einem unbemannten Fahrzeug zu testen.
Was gilt es für den Handel zu beachten? Logistik und herkömmliche Systeme müssen überarbeitet werden. Offline Stores können weder einfach von heute auf morgen gänzlich auf Online-Handel, noch auf Omnichannels umgestellt werden. Eigene Lieferservices ausbauen und damit neue Kunden gewinnen, ist nun die Devise. Wie? Ein Beispiel können sich Unternehmen an dem niederländischen Startup Picnic nehmen, das langsam aber solide in den deutschen Markt hineinwächst: Picnic agiert in vielerlei Hinsicht anders als Amazon oder Rewe. Das Startup ließ eine eigene Flotte an Elektrofahrzeugen für die Auslieferung fertigen, die besonders schmal sind und sich leicht be- und entladen lassen. Außerdem können Kunden keine Liefertermine wählen. Stattdessen gibt es einen fixen Termin pro Tag für jede Straße. Eine weitere Möglichkeit, den Lieferservice auszubauen, sind sogenannte Dark Stores, die rein als Pick-Stores für den Online-Handel agieren.
Auch Startups haben diese neuen Entwicklungen und potenzielle Schwierigkeiten erkannt. Foodly, ursprünglich als Rezepte-App mit Möglichkeit der Lieferung der notwendigen Zutaten gestartet, unterstützt das Startup nun Kaufleute dabei, den Aufbau eines professionellen Lieferservices digital zu bewältigen.
3. Amazon ist weiter ein technologischer Vorreiter
Mehr denn je hat sich durch Corona gezeigt: An Amazon führt (leider) kein Weg vorbei. Auch wenn es mit dem Online-Lebensmittel-Handel nicht geklappt hat, sollte niemand Amazon abschreiben. Pain Nr. 1 im stationären Handel ist und bleibt weiterhin der Checkout und die Kasse. Amazon hat hier mit seinen Amazon Go Stores bereits gezeigt, wie mit Hilfe von Technologie dieses Problem gelöst werden kann. Damit entsteht für den Kunden eine komplett neue Experience und das klassische Verständnis von Einkaufen wird radikal verändert. Diese Entwicklung gilt es als Vision für den eigenen LEH im Blick zu behalten. Die Technologie und die Kompetenzen, die es für dieses kassenlose Einkaufserlebnis braucht, sind hierzulande noch nicht vorhanden. Oder zumindest noch nicht als funktionierendes System erhältlich. An der Stelle kommt wieder Amazon ins Spiel. Das Unternehmen bietet seit neustem Unternehmen Zugriff auf seine Technologie über Justwalkout an. Sicher erstmal als Testballon, um zu schauen, ob es dadurch gelingt, durch die Hintertür den deutschen LEH an die Amazon-Plattform zu binden.
Neben der kassenlosen Go-Variante gibt es im Fundus der RetailTech-Lösungen zahlreiche Anläufe, zumindest Teile des Handels zu digitalisieren und mit Hilfe von Technologien und Daten besser zu machen. Eine Lösung, die mit der Überwachung von Eingangs- und Kassenbereichen gestartet ist, kommt vom Berliner Startup Signatrix. Hier wird mit Hilfe von Bilderkennung und künstlicher Intelligenz initial Schwund und Diebstahl verringert. Darüber hinaus bietet die Technologie großes Potenzial zum Thema Check-out Intelligence, was bedeutet, dass der Handel und die Produzenten mit Hilfe von Daten besser verstehen, wie sich z.B. der Kunde im Kassenbereich verhält, was er kauft etc..
Zusammenfassung und Ausblick
Was bleibt? Am Ende hat die Experience im LEH-Einkauf unter den vergangenen Monaten massiv gelitten. Gewohnheiten wurden aufgebrochen, Verhalten geändert. Konsumenten kaufen seltener, dafür aber mehr ein. Nicht nur einmal wurde von verschiedenen Akteuren darauf hingewiesen, Corona als Chance, als Digitalbeschleunigung zu nutzen. Einerseits, um kurzfristig den Boom zu nutzen, sich für das New Normal oder neue Marken bzw. Geschäftszweige wie ein hauseigener Lieferservice zu rüsten, andererseits, um auch Vorbereitungen für die langfristige Entwicklung zu treffen. Hier spielt nach wie vor Technologie eine entscheidende Rolle. Es wird in Zukunft weniger darum gehen, wieviel Umsatz pro m² Verkaufsfläche generiert wird, sondern wie viele Datenpunkte pro m² erzeugt werden. Immer mit dem Ziel, für den Kunden eine überragende Offline Experience zu schaffen. Aktuell hat der stationäre Handel noch mehr als 90% Anteil am Lebensmitteleinkauf. Will er diese auf Dauer behalten, muss er entsprechend aufrüsten.
Über Bastian Halecker
Prof. Dr. Bastian Halecker ist Founding Partner des Beratungsunternehmens Hungry Ventures. Als Experte und Wegbegleiter in der digitalen Strategieberatung unterstützt er Kunden dabei, mit geeigneten Methoden auf neue Markttrends zu reagieren und innovative Ideen für die Umsetzung neuer Geschäftsmodelle zu finden. Bastian hat an der Universität Potsdam zum Thema Business Model Innovation in reifen Industrien promoviert. Er verfügt über ein umfassendes Netzwerk im Startup-Ökosystem und beteiligt sich erfolgreich als Business Angel an Food Tech Startups.
Als erfahrener Unternehmer und Professor für Entrepreneurship an einer der größten technischen Hochschulen Berlins gilt Bastian als Vordenker für Entrepreneurship, Innovation und Food Tech.