von Prof. Antonio Krüger – Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz GmbH Saarbrücken –
Digitalisierung, Digitale Zwillinge, Kontrollübergabe und smarte Sensorik sind technologische Konzepte, wie wir sie vor allem aus der Industrie kennen. Entsprechend aufbereitet und mit Realdaten gefüttert, lassen sie sich innovativ für neue Ansätze im Handel nutzen. Welche Rolle Künstliche Intelligenz dabei spielen kann, erforscht das Innovative Retail Laboratory (IRL) des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI). Ein Einblick in aktuelle Forschungsvorhaben.
Am interessantesten scheint KI zurzeit für die mittelständischen Player in den nationalen Märkten. Die während der Pandemie erweiterten Online-Angebote gilt es jetzt auszubauen und wichtiger noch, mit dem stationären Handel zu verschmelzen. Wie eine konsequente Verbindung von analoger und digitaler Welt aussehen kann, um Kundenerlebnisse und Serviceleistungen für alle Seiten gewinnbringend zu gestalten, erforschen die Partner im Projekt Knowledge4Retail (K4R). Ein vielversprechender Ansatz ist das Konzept des „Digitalen Zwillings“. Gemeint ist ein Datenabbild, das möglichst viele Eigenschaften eines analogen Objekts, z. B. einer Filiale, digital bereitstellt und das Mehrwertdienste wie die Optimierung von Filialprozessen anbietet.
Wenn Maße, Abverkaufszahlen, Bestandsmenge eines Produkts und sein Standort im Regal bekannt und virtuell abbildbar sind, dann kann KI Prozesse bei der Kommissionierung von Click&Collect-Bestellungen oder der Wiederbefüllung von Regalen optimieren, indem arbeitsökonomische Laufwege und treffsichere Nachfüllbedarfe berechnet werden. Auf der Basis der Berechnungsergebnisse können im Lager autonome Service-Robotern bestückt werden, die dann selbstständig zum Zielregal fahren und so die Mitarbeitenden entlasten. Die im Rahmen des Projektes entstandene K4R-Plattform steht allen Interessierten als OpenSource-Lösung zur Verfügung.
Multimodale Mensch-Maschine-Interaktion
Der Umgang mit Situationen, die ein autonomes Roboter-System nicht allein bewältigen kann und bei denen es die Kontrolle abgeben muss, bleibt dabei eine wesentliche Herausforderung. Bislang wurde die Kontrollübergabe (engl. Transfer of Control, ToC) weitgehend isoliert betrachtet. Im DFKI-Forschungsprojekt CAMELOT rückt die Entwicklung von Systemen in den Fokus, die aus vergangenen Situationen lernen können, um ihr Verhalten in zukünftigen, ähnlichen Situationen zu verbessern. Die Übergabe der Kontrolle an den Menschen wird effizienter, in einigen Fällen sogar obsolet, was auch eine Kernforderung der Industrie ist, die sich mit diesem Thema auseinandersetzt. CAMELOT betrachtet die Aufgabenstellung aus dem Blickwinkel selbstlernender Systeme und multimodaler Mensch-Maschine-Interaktion. Modelle des maschinellen Lernens unterstützen das System bei der Erkennung und Klassifikation von Situationen. Die Modelle sind mehrfach adaptiv: Sie lernen selbst durch Beobachtung, können aber auch durch einen Benutzer angelernt werden, um besser mit neuen Situationen umzugehen. Multimodalität spielt dabei einerseits als Quelle für die Erkennung von Benutzerverhalten in Reaktion auf das System eine Rolle, aber auch für die natürliche Kommunikation zwischen System und Benutzer, falls es zu einer Kontrollübergabe kommt.
Mit der Frage, wie analoge Einkaufsvorgänge besser digitalisiert werden können, beschäftigte sich das IRL auch im Rahmen des Forschungsprojekts VICAR. Das Projekt hatte zum Ziel, die Laufwege in stationären Geschäften datenschutzkonform in Echtzeit zu erfassen und zu analysieren. Nutzbar sind die Ergebnisse z. B. als Basis intelligenter KI-Dienste, die Kundinnen und Kunden während ihres Einkaufs Produkte empfehlen oder den zielgerichteten Einsatz von Mitarbeitenden auf der Fläche planen. Durch Analyse und Visualisierung der Kundenströme können weitere Aspekte wie die optimale Produktplatzierung oder auch Anomalien wie Diebstahlversuche abgeleitet werden. Grundlage der im Projekt betrachteten Daten sind dabei Videodaten, die bereits heute durch Systeme zum Diebstahlschutz anfallen. Durch den Einsatz innovativer Technologien wie z. B. maschinelles Lernen kann aus diesen Daten neues Wissen generiert werden.
Customer Experience verbessern
Kunden schätzen frische, regionale Produkte. Lange Wartezeiten an der Frischetheke oder an der Kasse hingegen werden als Ärgernis empfunden und schmälern das Einkaufserlebnis. KI-Methoden können dazu beitragen, Warteschlagen am Point-of-Sale zu vermeiden und die Customer Experience im stationären Einzelhandel zu .
Wie genau das geschehen kann, damit befassen sich Forschende im Projekt KoPoSaB (Kollaborations-Plattform zur KI-optimierten Steuerung autonomer Bot-Systeme). Neben technischen Aspekten, wie z. B. einer intelligenten und sich fortlaufend adaptierenden Routengenerierung, spielt auch die Kommunikation – insbesondere zwischen maschinellen Systemen und Menschen – mit Hilfe multimodaler Schnittstellen eine wichtige Rolle. So können präzise Vorhersagemodelle z. B. über die Wartezeit am Point-of-Sale erstellt werden, die es Kundinnen und Kunden ermöglichen, die Wartezeit sinnvoll zu nutzen. Solche Systeme wirken sich somit unmittelbar positiv auf die Erfahrungen der Kundinnen und Kunden aus, entlasten die Mitarbeitenden und optimieren die Personalplanung.
KI-Methoden für den wirtschaftlichen Betrieb im Wohnumfeld
In noch stärkerem Maß lassen sich intelligente Dienste nutzen, wenn man das vernetzte Zuhause beim Einkauf im stationären Handel miteinbezieht. Intelligente Dienste, die Informationen aus dem „smarten Kühlschrank“ nutzen, können bei der Reduktion von Lebensmittelabfällen helfen oder im Zusammenspiel mit mobilen Applikationen und Technologien wie Augmented Reality (AR) im Geschäft Hilfestellung bei Ernährungsfragen geben.
Entwickelt und erprobt werden diese KI-Methoden für den wirtschaftlichen Betrieb im Wohnumfeld in ForeSight, der Plattform für kontextsensitive, intelligente und vorausschauende Smart-Living-Services, die Wohnungswirtschaft, Technologieanbieter, Verbände, Handwerk und Wissenschaft zusammenbringt. Auf Basis einer gesicherten, Gaia-X-konformen Infrastruktur, allgemein akzeptierter, ethisch fundierter KI- und Machine Learning-Methoden und einer branchenübergreifenden, herstellerneutralen und koordinierten Zusammenarbeit von über 75 Organisationen werden heute schon die Grundlagen für das Wohnen von morgen geschaffen. Die Verknüpfung mit dem Handel als benachbarter Domäne spielt dabei eine wichtige Rolle.
Doch wie können die Forschungsergebnisse in die Anwendung gelangen?
Neben der direkten Kooperation mit Unternehmen aus der Industrie steht mit dem Mittelstand-Digital Zentrum Handel, an dem das DFKI gemeinsam mit dem Handelsverband Deutschland e.V. (HDE), dem EHI Retail Institute, der IFH Köln und ibi research beteiligt ist, eine branchenspezifische Anlaufstelle für kleine und mittlere Unternehmen des Einzel- und Großhandels in Deutschland zur Verfügung. Das Zentrum informiert mittelständische Unternehmen anbieterunabhängig und kostenfrei und unterstützt sie so dabei, ihre Geschäftsmodelle mithilfe digitaler Anwendungen und Technologien nachhaltig zukunftssicher zu gestalten.