Deep Learning im
Lebensmitteleinzelhandel

Sensationelle Ergebnisse im Bereich der Bilderkennung und revolutionäre Verbesserungen der Sprachverarbeitung lösten innerhalb der KI-Forschung, aber auch medial, einen regelrechten Hype rund um das Thema „Deep Learning“ aus. Früher übliche, komplexe Pipelines an Bild- oder Textanalysesoftware wurden durch Ende-zu-Ende trainierte künstliche neuronale Netze ersetzt. Das vereinfachte die Verfahren drastisch und verbesserte die Erkennung signifikant. Während die Technologie früher in der Tat schwierig einzusetzen war, sind die Frameworks nun immer leichter zu bedienen, so dass der Einzug in eine Vielzahl von Domänen auch unabhängig von KI-Experten voranschreitet. Die logische Konsequenz ist, dass es auch für den Handel immer mehr KI-Ideen gibt, und sich Startups und etablierte Player auf Messen mit Konzepten und Prototypen überbieten.

Kundenmodellierung

Naheliegend sind die Integration von Empfehlungsdiensten in Onlinestores oder die Nutzermodellierung durch die Analyse des Klickverhaltens. Aber immer mehr Ideen fokussieren anwendungsnahe Dimensionen des stationären Handels. Fortschritte im Bereich der Bilderkennung können für die Analyse der Qualität bei Frischwaren, zur Erkennung von Leer- und Füllständen oder zur Diebstahlprävention eingesetzt werden. KI-Werkzeuge unterstützen so den Marktleiter, die entsprechenden Aktionen einzuleiten. Darüber hinaus können Kunden generisch identifiziert und bei ihrem Weg durch den Laden virtuell begleitet, sowie ihre Interaktionen mit Produkten gespeichert werden. Der Onlineklickpfad wird so in der Offlinewelt repliziert. Um den Einsatz von verständlicherweise kontrovers diskutierten Technologien wie z. B. Gesichtserkennung zu vermeiden, kann auch beispielsweise der als weniger kritisch anzusehende Gang des Kunden zur Wiedererkennung über mehrere Kameras hinweg genutzt werden. Die so gesammelten Daten können mit Kassenbondaten und gegebenenfalls sogar historischen Daten aus Kundenbindungsprogrammen angereichert werden, um durch Datenanalysen optimierte Kundenmodelle zu erstellen.

Sprachanalyse

Der mittlerweile erreichte Forschungsstand im Bereich der Sprachanalyse, insbesondere der Dialogsysteme, bietet zahlreiche Möglichkeiten für Voice Commerce, die über die starren Abfolgen von Fragepattern weit hinaus reichen. Wichtig ist eine gute Modellierung und somit Kenntnis über den Kunden, um beispielsweise zu wissen, dass ein Kunde mit “Apfel” stets den präferierten regionalen Bioapfel meint. Außerdem ermöglicht Forschung im Bereich Kontrollübergabe oder Transfer of Control die frühe Erkennung einer möglichen Überforderung des Dialogsystems, so dass man das Telefonat im richtigen Moment an menschliche Call Center Mitarbeitende übergibt, die nahtlos von der KI übernehmen können und die relevanten Informationen zum inhaltlichen und emotionalen Zustand des Dialogs bekommen, um die Interaktion ohne Rückfragen aufnehmen zu können.

Integration des Wohnumfelds

Weiteres Potential für den stationären Handel der Zukunft bieten das Smart Home und die Kunden, die ihr Wohnumfeld in ihre Einkaufsplanung integrieren wollen. So können Produkte mitsamt Haltbarkeit in Kühlschränken und Regalen vollautomatisch erfasst und zur Verbrauchsplanung, vor allem aber zur Einkaufsplanung herangezogen werden. Dazu verwendetes ubiquitäres Computing, bei dem “Technologie in den Hintergrund unseres Lebens reduziert wird” (Mark Weiser), ermöglicht hierbei eine optimale Kombination einer Vielzahl an Sensoren, welche die Kunden nahtlos an Händlerplattformen anbinden können, so dass automatische Personalisierung, aber auch optimale persönliche Beratung ermöglicht werden.

Verbesserungspotenziale für Kunden und Mitarbeiter

Insgesamt führt die Integration von Künstlicher Intelligenz in den Handel auf der Seite der Kunden zu einer Verbesserung des Kundenerlebnisses und zu einer nachhaltigeren Einkaufsplanung. Auf der Seite der Marktbetreiber kann durch die bessere Kenntnis der Präferenzen, der saisonalen oder witterungsabhängigen Gewohnheiten der Kunden die Sortimentsplanung sowie das Marktlayout optimiert werden. Die Mitarbeitenden im Markt können wieder mehr auf Kundenberatung fokussieren, und werden dabei durch Kundenprofile unterstützt, so dass KI-Werkzeuge (zur Profilerstellung) und menschliche Intelligenz (zur Beratung) ideal kombiniert werden.

Die technischen Komponenten sind vorhanden. Immer mehr Dienstleister oder Forscher beherrschen die relevanten Technologien wie Deep Learning und können spezielle Handels-Use Cases prototypisch umsetzen. Jedoch sind hierfür die zu Grunde liegenden Daten essentiell. Aber es lohnt sich als Händler in Vorlage zu treten, die Digitalisierung der Märkte voranzutreiben, bisher ungenutztes Datenpotential zu aktivieren, so dass man verschiedene Systeme kombinieren kann. Ohne die digitale Datenbasis und die Vorarbeit bzw. Vorleistung der Händler kann auch der beste Data Scientist keine Erfolge erzielen. Danach gilt es, unterschiedliche Use Cases rasch umzusetzen und Erkenntnisse zu sammeln. Entscheidend ist die transparente Kommunikation und die aktive Einbindung der Kunden in den Transformationsprozess. Das haben erste Versuche mit Gesichtserkennung in der Vergangenheit gezeigt, die zu negativen Reaktionen der Kunden geführt haben. Eine rechtliche Betrachtung oder DSGVO-konforme Hinweisschilder werden hier nicht ausreichen, stattdessen sollten die Händler frühzeitig den Dialog mit den Kunden suchen. Nur informierte Kunden können die ökologischen, finanziellen und ökonomischen Mehrwerte für sich erkennen und wertschätzen, dass ihre Wünsche aufgegriffen und ihre Anregungen berücksichtigt werden.

Autor
Antonio Krüger ist CEO und wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz GmbH (DFKI) sowie wissenschaftlicher Direktor des Forschungsbereichs „Kognitive Assistenzsysteme“ am DFKI. Seit 2009 ist er Inhaber der Globus-Stiftungsprofessur für Informatik an der Universität des Saarlandes, Leiter des Ubiquitous Media Technology Lab sowie wissenschaftlicher Leiter des Innovative Retail Laboratory (IRL) am DFKI. Prof. Krüger ist ein international angesehener Experte der Mensch-Maschine-Interaktion und Künstlichen Intelligenz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Mobile und Ubiquitous Spatial Assistance Systems, die die Forschungsgebiete Intelligent User Interfaces, User Modeling, Cognitive Sciences und Ubiquitous Computing kombinieren. Er hat den Studiengang Medieninformatik an der Universität des Saarlandes 2010 etabliert und ist bis heute für diesen verantwortlich. Er ist Mitgründer der Saarbrücker Technologie-Firma Eyeled GmbH, die sich auf die Entwicklung mobiler und ubiquitärer Informationssysteme spezialisiert hat. Von 2004 bis 2009 war er als Professor für Informatik und Geoinformatik an der Universität Münster und als geschäftsführender Direktor des Instituts für Geoinformatik tätig. Er hat an der Universität des Saarlandes Informatik und Wirtschaftswissenschaften studiert und im Rahmen des Graduiertenkollegs „Kognitionswissenschaft“ 1999 seine Promotion in Informatik abgeschlossen. Antonio Krüger hat mehr als 200 Beiträge in anerkannten Fachzeitschriften und Konferenzen veröffentlicht und ist in internationalen und nationalen Fachgremien aktiv.

Zum Institut
Das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) GmbH wurde 1988 als gemeinnützige Public-Private Partnership (PPP) gegründet. Es unterhält Standorte in Kaiserslautern, Saarbrücken, Bremen, ein Projektbüro in Berlin, ein Labor in Niedersachsen und Außenstellen in St. Wendel und Trier. Das DFKI ist auf dem Gebiet innovativer Softwaretechnologien auf der Basis von Methoden der Künstlichen Intelligenz die führende wirtschaftsnahe Forschungseinrichtung Deutschlands.

In zwanzig Forschungsbereichen, acht Kompetenzzentren und acht Living Labs werden ausgehend von anwendungsorientierter Grundlagenforschung Produktfunktionen, Prototypen und patentfähige Lösungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie entwickelt. Die Finanzierung erfolgt über Zuwendungen öffentlicher Fördermittelgeber wie der Europäischen Union, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), den Bundesländern und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie durch Entwicklungsaufträge aus der Industrie.

Neben den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Saarland und Bremen sind im DFKI-Aufsichtsrat zahlreiche namhafte deutsche und internationale Hochtechnologie-Unternehmen aus einem breiten Branchenspektrum vertreten. Das erfolgreiche DFKI-Modell einer gemeinnützigen Public-Private Partnership gilt national und international als zukunftsweisende Struktur im Bereich der Spitzenforschung. Derzeit arbeiten ca. 660 hochqualifizierte Wissenschaftler, Verwaltungsangestellte und 480 studentische Mitarbeiter aus mehr als 65 Nationen an über 250 Forschungsprojekten.